Im Jahr 2006 war ich zum ersten und bisher einzigen Mal beim „Run for Help“ in Bad Lippspringe, einem caritativen 24-Stunden-Lauf ohne offizielle Rundenzählung. Es war gleichzeitig mein erster 24-Stunden-Lauf. Ein Lauf, der mir unvergesslich bleiben wird und an den ich in den Jahren danach trotz schmerzhafter Erfahrungen mit Blasen an den Füßen immer wieder gerne gedacht habe.
An die Leistung, die ich damals erbracht habe und auf die ich ziemlich stolz war.
An die familiäre Stimmung unter den Ultraläufern.
An die Campingatmosphäre im Arminius-Park.
An das „Team USA“ (Ulli, Stefan, Andre), das sich einen Pavillon teilte.
An die tausend kleinen Lichter, die nachts die Strecke markierten.
Und an kleine Begebenheiten mit fröhlichen und engagierten Kindern.
Im Jahr 2009 musste es einfach wieder sein; der Lauf zog mich magisch an.
Das „Team USA“ existiert aus gesundheitlichen Gründen leider nicht mehr, aber ich konnte mich auf ein Wiedersehen mit anderen Laufbekanntschaften freuen.
Auf den Lauf durch die Lichter, auf das Laufen in den Morgen.
Auf die lebendigen Momente mit zahlreichen Kindern auf der Strecke und auf die ruhigen Momente in den frühen Morgenstunden, wenn kaum jemand auf der Strecke ist.
Und natürlich darauf, dass Kris nicht „nur“ einfach so mitkommen, sondern walkend mitmachen wollte, obwohl sie seit über einem Jahr nicht mehr trainiert hatte.
Sie hatte sich auch gleich ein Ziel gesetzt: die Marathondistanz.
Meine Prioritäten lagen in diesem Jahr anders als 2006. Nachdem ich damals auch meine physischen und psychischen Grenzen ausloten und abgestufte Leistungsziele erreichen wollte stand diesmal klar der Spaß im Vordergrund. Ich wollte mir Zeit zum Quatschen und für gemeinsame Runden mit Kris und anderen Teilnehmern nehmen und plante auch eine längere Schlafpause ein.
Nach Möglichkeit wollte ich trotzdem jeden Tag einen Marathon laufen oder vielleicht auch jeden Tag 50 Kilometer; das war aber nebensächlich.
Ein „geselliges Wochenendcamping mit Laufeinlagen“ sollte es werden.
Bei der Ankunft in Bad Lippspringe wurden wir am Stadtrand schon von Strohballenmännchen begrüßt, die auf den 10. „Run for help“ hinwiesen.
Im Arminiuspark schlugen wir direkt neben der Strecke das Zelt auf und begrüßten die ersten Bekannten. Bei der Anmeldung als team.laufloewe.de erhielten wir dann die Startnummern 16 und 17.
Mit dem Startschuss um 14 Uhr begaben Kris und ich uns auf unsere erste gemeinsame Runde, die wir Hand in Hand miteinander walkten, bevor ich zur zweiten 620-Meter-Runde dann in den Laufschritt wechselte.
Das Wetter war aus meiner Sicht mit ungefähr 18 Grad bestens geeignet zum Laufen, zumal die drohenden dunklen Wolken uns mit ihrem Inhalt zunächst verschonten.
In Runde 11 freute ich mich gerade darüber, dass meine Hüfte, die – wohl durch einen Wegkantenfehltritt - seit ein paar Tagen schmerzte, sich friedlich verhielt, als der Schmerz urplötzlich wieder da war. So als hätte ich mit meinen Gedanken einen Schalter umgelegt.
Ich fürchtete ein frühes Aus und machte nach der Runde erst einmal eine kleine Pause bevor ich weiterlief. Da der Schmerz an der kleinen, aber gemeinen Steigung am Prinzenpalais stärker war als in den Flachpassagen beschloss ich in Runde 14, die Steigung meistens zu gehen. Mit dieser Taktik und einer unterstützenden Schmerztablette ging es dann ganz gut weiter.
Nachdem ich um 16:15 zum 23. Mal den Colani-Truck, der als Verpflegungsstelle diente, das kleine Läufer-Zeltlager, den kurzen Anstieg am Prinzenpalais, das kleine Dorf aus von Kindern bemalten Tipis und die Bühne passiert hatte, legte ich eine erste Verpflegungspause ein, weil ich in den Stunden vor dem Lauf nichts mehr gegessen hatte. Nach Kaffee und Kuchen im Campingstuhl ging es gegen kurz vor 17:00 Uhr dann wieder auf die Piste.
Ganz entspannt, ohne Druck. Eben wie beim Camping.
Die Strecke war um diese Zeit noch recht voll, da neben einigen Laufgruppen und Einzelläufern auch viele Schul- und Kindergartengruppen unterwegs waren.
Das führte aufgrund abrupter Brems- und Richtungsmanöver der Laufzwerge schon mal zu kleinen Karambolagen. Etwas ärgerlich war es, wenn die Strecke in der gesamten Breite durch Gruppen blockiert wurde. Den Kindern muss man das ja nachsehen, aber Walkergrüppchen entsprachen so voll dem Klischee und insbesondere von Laufgruppen sollte man erwarten können, dass sie schnelleren Läufern etwas Platz lassen.
Interessant waren die unterschiedlichen Typen bei den Kindern zu beobachten.
Da gab es zum Beispiel die „Renner“, die einen von unten herausfordernd und schelmisch ansahen und offensichtlich ein keines Rennen wollten.
Dann gab es die „Intervallläufer“: sprinten bis die Puste ausgeht – gehen – sprinten - gehen und so weiter.
Die „Übertreiber“ erzählten den Mitlaufenden von gelaufenen Rundenzahlen, die nur der kindlichen Phantasie entsprungen sein konnten.
Es gab die „Abkürzer“, die offensichtlich nur lustlos wegen des schulischen Gruppenzwanges liefen und einen kürzeren Weg durch die Parkmitte wählten.
Und dann gab es noch die „Publikumssprinter“, die außer Sichtweite der Zuschauer langsam liefen oder gingen und dann auf der Promenade richtig Gas gaben.
Die letzten beiden Gruppen gab es auch in Kombination als „abkürzende Publikumssprinter“.
Ob die Jungen, die sich Wasserbecher über den Kopf kippten, mit ihren nassen Haaren Läuferschweiß vortäuschen wollten blieb leider ungeklärt.
Am meisten Freude machten mir natürlich die Kiddies, die richtig bei der Sache waren; das war manchmal richtig niedlich anzusehen.
Die nächste längere Pause machte ich dann um kurz vor 19:00 Uhr nach der 47. Runde. Der Hüftschmerz war zwar noch vorhanden, aber erträglich. Mit einer Pommes füllte ich Salz, mit einer Flasche alkoholfreiem Weizenbier Flüssigkeit auf. Pommes esse ich sonst während eines Laufes nicht, aber es war den Versuch wert.
Um 20:25 war ich wieder auf der Strecke.
Zwischendurch gab es immer mal kleine Pausen, um die Füße zu begutachten, oder Gehrunden mit Kris und anderen Teilnehmern.
Ansonsten behielt ich meine „Bergauf gehen – gerade und bergab laufen – Taktik“ bei.
Für 22:00 Uhr hatte der Veranstalter eine Besonderheit angekündigt.
Im Kongresszentrum, das direkt an der Strecke liegt, sollte eine Band spielen und die Laufstrecke um 165 Meter durch und um das Gebäude verlängert werden, wobei es auch eine Etage über Treppen hinauf ging und dann an der Bühne und am Publikum vorbei.
Mit den Läufern und Zuschauern sollte zunächst vom Startbereich aus eine Polonaise dorthin erfolgen, aber die kam nicht in Gang. Nachdem Kris und ich mit ein paar anderen Läufern auf den Beginn warteten und langsam kalt wurden, entschloss sich der Moderator dann doch irgendwann zum Gruppensprint ins Gebäude.
Inzwischen hatten zahlreiche Kinderhände tausend Windlichter im Park entzündet, was wieder mal eines der Highlights des Laufes war und ein gutes Stück zum besonderen Charme des Laufes beitrug.
Auch die Tipis wurden von innen beleuchtet – ein schönes Bild.
Leider hatten ein paar Halb- und Viertelwüchsige nichts Besseres zu tun als einen Teil der Windlichter aus- oder wegzutreten.
Um 23:10 hatte ich nach 69 Runden und 4 freiwilligen Umwegvarianten durch das Kongresszentrum mit 43,44 km die Marathonmarke überschritten und legte mich zum Schlafen zu Kris ins Zelt.
Nachdem ich den Handywecker auf 4 Uhr stellte, weil ich gerne in den erwachenden Tag hineinlaufen wollte, bin ich dann wohl auch schnell eingeschlummert.
Als ich dann am frühen Morgen geweckt wurde prasselte heftiger Regen aufs Zeltdach und ich beschloss spontan, den Wecker auf 5 Uhr weiter zu stellen. Aber auch da prallten noch reichlich Tropfen aufs Zelt und ich verschob das Aufstehen um eine weitere Stunde. Zeit war ja genug da und ich zog in diesem Moment das Schlummern im trockenen Zelt dem Laufen im strömenden Regen vor.
Als Kris und ich um halb 7 erst einmal zum Frühstück gingen, das der Veranstalter den teilnehmenden gut 20 Ultraläufern spendierte, war es wieder trocken.
Nach Brötchen, Kaffee und Frühstücksgesprächen unter Läufern startete ich dann erst um 7:25 in den zweiten Lauftag.
Mir war klar, dass es für einen zweiten Marathon zeitlich eng werden könnte. 2 oder 3 Runden später setzte dann schlagartig für eine Weile wieder starker Landregen ein. Mit Weste und Kappe geschützt ging es dann aber durch den Regen weiter.
Die Muskulatur war in Ordnung und auch der Hüfte ging es einigermaßen gut.
So langsam kam dann doch etwas Ehrgeiz auf und ich wollte versuchen, den zweiten Marathon vielleicht doch noch zu erreichen und keine längeren Pausen mehr zu machen. Kurz vor 9 war dann aber doch eine Pause fällig, weil ich eine Blase bemerkte, die getaped werden musste, weil sich das widerspenstige Stück nicht öffnen ließ. Mit frischen Klamotten ging es dann erst um kurz nach halb 10 weiter.
Den zweiten Marathon konnte ich da eigentlich abhaken, zumal es vormittags immer wieder voller wird auf der Strecke. Ich setzte mir daher kleinere Ziele. Erst 100 Runden. Dann 111 Runden.
Diese hatte ich dann um 12:20 erreicht nachdem ich um 10:40 nach 95 Runden noch einmal eine viertel Stunde Regenpause machte.
Das nächste Ziel waren dann 129 Runden, die 80-Kilometer-Marke.
Die Beine liefen noch erstaunlich gut und mit meiner „Bergtaktik“ kam ich recht zügig und gleichmäßig voran.
Es war ein gutes (und für mich seltenes) Gefühl, in diesem späten Rennstadium noch zu den schnellsten auf der Piste zu gehören, wenngleich auch andere Ultralaufkollegen durch weniger Pausen teilweise deutlich mehr Kilometer in den Beinen hatten.
Zwischendurch war allerdings noch eine besondere Gehrunde fällig. Bei Kris war es die 69. – die Marathonrunde. Ich drückte ihr das Marathonfähnchen in die Hand und wir gingen diese Runde gemeinsam. Beim anschließenden „Beweisfoto“ am Start/Ziel-Banner bekam das Publikum mit, dass sie ihren ersten Marathon geschafft hatte und sie erhielt den verdienten Applaus.
Ungefähr eine viertel Stunde vor dem Ende hatte ich dann meine 168. Runde geschafft und holte Kris am Zelt ab. Gemeinsam machten wir die letzte Runde, nach der ich dann mit den vier Umwegen durch das Kongresszentrum und bei geschätzten 7 Höhenmetern pro Runde 80.64 Kilometer mit knapp 1200 Höhenmetern für mich verbuchen konnte.
100 Meter vor dem Ziel trafen wir uns mit anderen der rund 20 teilnehmenden Ultraläufer, um dann nach ein paar Gruppenbildern Sekunden vor dem Ende des Laufs gemeinsam in den Zielbereich zu laufen.
Horst, ein älterer Teilnehmer, der wohl bisher bei jedem „Run for Help“ am Start war und zügig gehend seine Runden wie ein Uhrwerk abspulte, erhielt vom Veranstalter als Dank die Startnummer 1 auf Lebenszeit und den Applaus des Publikums und konnte die Tränen nicht verbergen.
Auch Rainer, der lange Zeit krankheitsbedingt gehandicapt war, erst vor wenigen Monaten wieder mit dem Laufen begann, die Nacht durchlief und eine prima Leistung ablieferte, konnte kurz dem Publikum seine Geschichte erzählen und den verdienten Klatschlohn ernten.
So wurde der Abschluss noch einmal richtig rührig.
Auch für das engagierte Run for Help-Orga-Team war der Lauf wohl ein voller Erfolg: rund 1700 Teilnehmer und die Sponsoren brachten gut 15.000 Euro für die gute Sache zusammen.
Nachdem Kris und ich unseren Krempel wieder im Auto verstaut hatten machten wir noch einen kleinen Bummel durch Bad Lippspringe, schauten uns noch ein paar Sehenswürdigkeiten an, nahmen einen Schluck aus den Mineralquellen, stärkten uns und fuhren nach Hause.
Das „gesellige Wochenendcamping mit Laufeinlagen“ war zu Ende – aber es wird sicher nicht das letzte Mal gewesen sein…